Tag 55 – Endlich Normalität?

Liebe Lotte,
Es ist soweit. Tag 55 der Pandemie und Schulen, Spielplätze, Geschäfte unter oder über oder genau 800 qm… endlich wird geöffnet. Ich jubiliere und frohlocke. Nicht.
Warum ich mich nicht freue? Wo mein erklärtes Ziel es doch ist, den Menschen eine Hilfestellung in diesen schweren Zeiten zu geben?
Ganz einfach. Hier wird der Bevölkerung – im besten Fall – ein echter Bärendienst erwiesen.
Durch harte Arbeit der vergangenen Wochen ist es gelungen, die Zahl der aktiven und neuen Infektionen durch das Coronavirus signifikant zu reduzieren und auf ein Maß zu bringen, das aus epidemiologischer Sicht hoffen lässt.
Und was machen wir daraus? Geil, endlich wieder Bundesliga.
Ich verstehe jedes Argument das zur Forderung von Lockerung angebracht wird. Mentale Gesundheit, Arbeitsplätze, Volkswirtschaft. Ich bin so gebildet und auch selbst wirtschaftlich genug in das Thema involviert, dass ich es – Hand aufs Herz – verstehe. Aber in meiner Argumentationskette für ein Beibehalten (oder sogar kurzzeitiges Verschärfen) der Kontaktbeschränkungen steht die potentielle Gefährdung von Menschenleben allen genannten Argumenten gegenüber.
Ich weiß, wir wollten unsere Arbeit hier nicht polarisieren oder politisieren. Aber ich will darlegen, warum schwere Zeiten auf uns zukommen. Und warum speziell ich als Arzt mit der Situation hadere. Und warum es mir selbst nicht gut geht deswegen.
Seit Wochen kämpfe ich mich in meiner Hausarztpraxis mit meinen Patienten durch eine sehr harte Zeit. Wir haben maximale Kontaktbeschränkungen, mein Team und ich versuchen alles am Telefon zu machen, wir hatten schwere Coronaverläufe und haben erlebt wie Menschen ohne Ihre Angehörigen im Krankenhaus gestorben sind, weil niemand zu Ihnen durfte.
Und jetzt fangen wir an, zu lockern. Obwohl die Experten, die wir in den vergangenen Wochen zu Medienstars gemacht haben, davor warnen, zu leichtsinnig zu sein. Wir laufen Gefahr, sehenden Auges einem faulen Frieden anheim zu fallen. Wenn dem so ist, dann ist mit den jetzigen Lockerungen unsere gesamte Arbeit der letzten Wochen nichts mehr wert. Menschen sind ohne Nutzen einen persönlichen Leidensweg gegangen, weil wir nichts daraus machen. Und ich darf mir anhören, ich würde das halt auch zu eng sehen und sooo schlimm sei das alles garnicht. Ich warte tatsächlich darauf, dass die ersten Patienten einen neuen Hausarzt suchen, der weniger Panik macht…
Habe ich mit allem Recht?
Würde ich nie behaupten. Es kann gut sein, dass ich das zu streng sehe. Vielleicht ist die Pandemie überwunden. Oder war tatsächlich nie so eine Gefahr. Vielleicht haben die Kollegen von der Charité und dem Robert-Koch-Institut Unrecht und alles ist nur Show. Dann haben wir viele wirtschaftliche Existenzen in Gefahr gebracht, Millionen verschleudert und die Volkswirtschaft nachhaltig geschädigt. Ist blöd. Wenn ich aber Recht habe, wird die jetzige Entscheidung Menschenleben kosten. Und auch nur ein einziges verlorenes Leben in Kauf zu nehmen aufgrund wirtschaftlicher Interessen halte ich für blöder – es geht gegen meine Überzeugung.
Sag mir Lotte, wie gehe ich damit um?
Ich soll meinen systemrelevanten Beruf weiter ausüben, meine Kinder zuhause unterrichten weil sie keiner relevanten Klassenstufe angehören und gleichzeitig zur Normalität zurückkehren.
Da könnte ich jetzt mal echt Deinen Rat gebrauchen…
Im Übrigen: selbst wenn die ’neue’ Normalität jetzt da ist… dann wird das über viele Monate Einschränkungen und mehr neue Pflichten als wiedergewonnene Rechte bedeuten. Da sehe ich viel Potential für erneute Belastung und das rechtfertigt unser beider Arbeit noch mehr. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden…
Beste Grüße, Doc